Campus St. Galli

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von Ursula Kampmann

1. August 2013 – Irgendwann zwischen den Jahren 819 und 826 machte sich im Kloster Reichenau ein Mönch daran, von einem Musterkloster zu träumen. Er zeichnete auf einem Pergament mit einer Größe von 112 cm x 77,5 cm den Plan dessen, was ein Kloster in seiner Phantasie hätte sein können.

St. Galler Klosterplan. Reichenau, frühes 9. Jahrhundert. Quelle: Wikipedia.

Rund fünfzig Gebäude sind auf diesem Plan wiedergegeben, deren Funktionen in 333 Inschriften genannt sind. Schon diese Zahl macht klar, dass es sich um ein Ideal handelt. 300 ist der biblische Zahlenwert des Geistes Gottes (ruach elohim), 33 steht für die Lebensjahre Jesu. Altes und neues Testament vereint in diesem neuen Jerusalem, von dem der Mönch in seinem eigenen Kloster auf der Insel Reichenau träumte.

J. R. Rahn. Rekonstruktion des Plans von 1876. Quelle: Wikipedia.

Im Mittelpunkt stand natürlich die Klosterkirche, ein prachtvoller Bau. Darum gruppierten sich Skriptorium, Sakristei, Gästehaus und die Klausur mit Kreuzgang, Dormitorium, Refektorium, Latrinen und Waschraum. Dazu gab es die Wirtschaftsgebäude, also Küche, Back- und Brauhaus, dann den Palast des Abtes, ein Hospital und ein Novizenhaus. Mehr als 100 Mönche, dazu rund 200 Arbeiter und Diener dürften in dieser gewaltigen Anlage einst Platz gefunden haben.

Die neuen Bewohner der Klosterstadt ziehen ein. Foto: Campus St. Galli.

Diesen Plan hat sich nun ein Teil der Einwohnerschaft von Meßkirch als Vorbild genommen, um die Kleinstadt um eine große Attraktion zu bereichern.

Die Stadtkirche St. Martin, davor Denkmal für Conradin Kreutzer. Foto: KW.

Meßkirch mit seinen etwa 8.200 Einwohnern ist eine hübsche Stadt in Oberschwaben, etwas abgelegen vom Strom der Bodenseetouristen. Dabei gäbe es hier ein gar nicht so kleines Renaissance-Schloss zu sehen sowie eine um 750 gegründete Stadtpfarrkirche zu Ehren des hl. Martin, die heute im Spätrokoko daherkommt.

Grab des Gottfried von Zimmern, gestorben 1554. Foto: KW.

Die Geschichte von Meßkirch ist eindrucksvoll. Die Stadt wurde erstmals im 11. Jahrhundert erwähnt. Sie soll gemäß der Vita des hl. Heimerad der Ort gewesen sein, an dem der Heilige um 965 geboren wurde. Spätestens 1241 war Meßkirch Markt, seit 1261 Stadt. Unter dem Adelsgeschlecht der von Zimmern erlebte die Stadt in der frühen Neuzeit eine Blüte, von der wir durch die Zimmersche Chronik in vielen Details erfahren.

Rathaus von Meßkirch. Foto: KW.

Irgendwann Ende des 19. Jhts. rutschte Meßkirch in die Bedeutungslosigkeit. Nur wenig Ortsfremde kennen den Namen der Stadt oder wissen, dass hier der Philosoph Martin Heidegger oder der Komponist Conradin Kreutzer geboren wurde. Doch das soll sich jetzt mit einem ambitionierten Projekt ändern, das vom Enthusiasmus der Bürgerschaft getragen wird.

Die Eröffnungsfeier von Campus St. Galli, links der Initiator des Projekts und Vorstandsvorsitzender des Vereins, Bert M. Geurten, rechts die Leiterin der Baustelle, Verena Scondo. Foto: Campus St. Galli.

Es träumte nämlich nicht nur ein Mönch auf der Bodenseeinsel Reichenau von einem perfekten Kloster. Genauso träumte Bert M. Geurten, Rheinländer, Bürger von Meßkirch und Fan des französischen Burgenprojekts in Guédelon. Er wollte sich einen Traum verwirklichen und gleichzeitig etwas für die Infrastruktur der Region tun. Schließlich hat das Projekt Campus St. Galli das Zeug dazu, eine überregionale Touristen-Attraktion zu werden.

Der Eingang. Foto: KW.

Über 40 Jahre soll der Bau dauern. Jetzt sind die Handwerker erst einmal in ihre provisorischen, aus Holz gebauten Unterkünfte eingezogen. Die MünzenWoche hat die Klosterstadt im Entstehen am 20. Juni 2013 besucht, zwei Tage vor der offiziellen Eröffnung.

Ein Erdwall rund ums Klostergelände. Foto: KW.

Auch wenn der Eingang modern anmutet. Das Klostergelände ist nicht mit Stacheldraht geschützt, sondern mit einem Erdwall, in den die entwurzelten Baumstämme mit eingearbeitet wurden, um ein Übersteigen zu erschweren.

Die Gallus-Eremitage. Foto: KW.

Auf einem festgelegten Parcour läuft der Besucher durch eine kleine mittelalterliche Siedlung. Erste Station ist die so genannte Gallus Eremitage, die Keimzelle des Klosters. In ähnlichen Gebäuden dürften nach dem Tod des hl. Gallus Mönche gelebt haben, ehe sie sich in St. Gallen ein steinernes Quartier errichteten. Um solche Eremitagen herum siedelten nach den Mönchen Handwerker, teilweise freie Männer, teilweise Leibeigene des Klosters, die dem Heiligen von frommen Christen für seine Fürbitte im Jenseits geschenkt worden waren.

Der Hühnerstall. Foto: KW.

Wenige Meter weiter auf dem Parcour befindet sich der Hühnerstall. Schließlich gehört das Huhn zu den ältesten gezähmten Nahrungslieferanten der Menschheit. Erste Funde zur europäischen Hühnerhaltung kennt man aus der nicht allzu weit entfernten Heuneburg. Die Römer sorgten dann dafür, dass man sich auch in Schwaben an Eier und Hähnchen gewöhnte.
Der Hühnerstall zeigt schön, mit welchen Schwierigkeiten die Organisatoren zu kämpfen haben, denn ein vollständiges Frühmittelalter zu rekonstruieren, ist schwierig. Tierschützer würden sich schön beschweren, müssten sich die ausgestellten Hühner ständig vor begeisterten Kindern in Sicherheit bringen, die sie streicheln wollen. Die Lösung ist ein unhistorischer Maschendrahtzaun, der die Hühner vom Weglaufen abhält.

Holznägel halten den Hühnerstall zusammen. Foto: KW.

Und die Kritiker übersehen lässt, wie liebevoll dieses kleine Gebäude rekonstruiert wurde. Es gibt keine Metallnägel, sondern spitze Holzpflöcke, mit denen die Stämmlein befestigt wurden.

Eingangstür zum Hühnerstall. Foto: KW.

Und die Eingangstür besteht aus einem luftigen Geflecht von Weidenruten.

Vorbereitungen für den Arbeitsplatz des Töpfers. Foto: KW.

Hier hat am 22. Juni der Töpfer seine Arbeit aufgenommen. Das Rad wird dann als Töpferscheibe dienen, die sich um den Holzpflock in der Bildmitte dreht.

Der Schmied bei der Arbeit. Foto: Campus St. Galli.

Etwas weiter kann man einen Schmied bei der Arbeit beobachten.

Kräutergärtlein. Foto: KW.

Sein Arbeitsplatz liegt direkt neben dem unvermeidlichen Kräutergärtlein. Kräuter und andere Pflanzen brauchte man im Frühmittelalter nicht nur, um den täglichen Brei geschmacklich aufzuwerten, sondern auch für die Heilung kleinerer Alltagsgebrechen und zum Färben.

Bienenhaus. Foto: KW.

Genauso wie den Honig, der nicht nur der einzige Süßstoff des Mittelalters war. Er wirkte darüber hinaus entzündungshemmend und wurde in der Wundbehandlung eingesetzt. Dazu produzierten die Bienen das kostbare Wachs, das viel zu wertvoll war, um es für irdische Zwecke einzusetzen. Die prachtvollen Bienenwachskerzen blieben dem Gottesdienst vorbehalten. Bienenstöcke galten als derart wertvoll, dass man Dieben von Bienenkörben noch im Spätmittelalter die Hand abhackte oder sie gleich mit dem Tode bestrafte.

Ofen. Foto: KW.

Ein aufgemauerter Backofen ist eine weitere Attraktion der Klosterstadt, in der bis zum 11. November die Handwerker den Besuchern jeden Tag, ausgenommen Montags, ihr Können vorführen.

Das ganze Dorf ist in die Vorbereitungen involviert. Foto: KW.

Ganz Meßkirch scheint in die Arbeiten rund um die Klosterstadt involviert zu sein – und allein das ist schon großartig!

Doch natürlich gibt es auch jede Menge Kritiker des Projekts. Sie bemängeln hauptsächlich, dass man es vor Ort mit der Frühmittelalterlichkeit nicht genau genug nähme. Die Frage ist dabei einfach, wie weit kann Authentizität gehen? Der eine wird finden, dass man auch unter dem mittelalterlichen Gewande moderne Unterwäsche tragen darf, der andere wird bereits das als unhistorisch verdammen.
Jedes Großprojekt muss mit Kompromissen leben. Vor allem wenn es in einer ersten Stufe darum geht, Besucher anzuziehen. Leider sind die mit Spektakulärem leichter zu erreichen als mit historischer Authentizität. Um es ganz klar auszusprechen, es handelt sich bei Campus St. Galli nicht um ein wissenschaftliches Projekt, hinter dem ein gezieltes Forschungsinteresse steht, sondern um die Privatinitiative eines Vereins von engagierten und begeisterten Bürgern, die damit, unterstützt von der Politik, Touristen anziehen wollen. Deren Eintrittsgelder sollen auf Dauer das Projekt sicher stellen.
Es wäre unfair, schon jetzt ein Urteil über Campus St. Galli zu sprechen, nachdem man gerade erst mit dem Bau begonnen hat. Man wird sehen, wie sich die Sache weiterentwickelt, ob der Erfolg aus Campus St. Galli ein archäologisches Disneyworld macht, oder ausreichend verfügbare Mittel eine möglichst korrekte Rekonstruktion begünstigen. Wer sich das Projekt mit offenen Augen ansieht, bemerkt, dass derzeit viele Bereiche eine bessere Dotierung nötig hätten.
Die MünzenWoche wird jedenfalls in regelmäßigen Abständen den Fortschritt der Baustelle begleiten und dokumentieren, um Ihnen ein bisschen Lust darauf zu machen, selbst einmal die oberschwäbische Variante der experimentellen Archäologie anzusehen.

Näheres zum Projekt finden Sie auf der Website des Vereins.

Hier haben Sie alle Informationen zu Öffnungszeiten und Eintrittspreise zusammen.

Einen kleinen Film über den Campus St. Galli finden Sie auf Youtube.

Dort können Sie auch der berühmtesten Komposition des Meßkircher Komponisten Conradin Kreutzer lauschen.

Eine kritische Stimme zum Campus St. Galli finden Sie hier.

Mehr über das Projekt in Guédelon, das zum Vorbild für Campus St. Galli wurde, erfahren Sie hier.