Türkischer Frühling – Teil 8

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von Ursula Kampmann

20. Juni 2013 – Es gibt einen klassischen Ausflug, den jeder macht, der sich in Kusadasi einquartiert hat. Er hakt die drei attraktivsten, nahe gelegenen Ruinen ab: Priene, Milet, Didyma. Ganz so touristisch wollten wir es dann doch nicht angehen. Wir teilten den Tag auf: Ein Ausflug nach Milet und Didyma, der zweite nach Priene.

Montag, 29. April 2013
Als ich 1983 das erste Mal nach Didyma kam, gab es da einen Tempel und sonst nichts. Heute ist das wesentlich touristischer organisiert. Es existieren große Parkplätze in ca. 500 Meter Abstand von der Ruine. Von dort führt eine moderne Prozessionsstraße zur Grabung, die mit Andenkenläden gesäumt ist. Die meisten hatten noch geschlossen, als wir etwa um 10.00 Uhr ankamen. Wir waren zu früh dran. Schließlich preisen die Veranstalter diesen Tag nicht umsonst als „Priene, Milet, Didyma“ an, das heißt, erst wird Priene besichtigt, dann Milet und am Schluss Didyma. Hochbetrieb herrscht hier also am Nachmittag.

Milet. Bronze, um 200 v. Chr. Av. Statue des Apollon von Didyma. Künker 133 (2007), 7586.

Ursprünglich soll im Heiligtum von Didyma eine kleinasiatische Muttergottheit verehrt worden sein, die von den Griechen als Leto identifiziert wurde. Leto gebar, so zumindest die feste Überzeugung der Einwohner von Milet, in Didyma (von griech. didymoi = Zwillinge) Apollon und Artemis. Und von dort bis zu einem Orakel des Apollon war es wirklich nur ein kleiner Schritt. Der Apollontempel von Didyma wurde zu einem der bedeutendsten Heiligtümer im archaischen Kleinasien. Herodot überliefert, dass sowohl Kroisos als auch der ägyptische Pharao Necho den Branchiden, wie sich das lokale Priestergeschlecht nannte, Weihegaben sandte. Und natürlich war die reiche Stadt Milet stolz auf ihren Kult, so stolz, dass man einen Konkurrenzbau zum benachbarten Artemision in Ephesos plante.
Nur dumm, dass sich Milet dann während des Ionischen Aufstands derart exponierte. Die Stadt wurde zerstört und natürlich auch der Tempel. Die berühmte Bronzestatue des Apollon Didymeios mit dem Hirsch auf der ausgestreckten Hand, die der berühmte Bildhauer Kanachos von Sikyon geschaffen hatte und die so häufig auf den Münzen von Milet zu sehen ist, transportierten die siegreichen Perser zusammen mit den Branchiden in ihre Heimat. Erst Seleukos I. (312-281) sorgte dafür, dass beides wieder zurückerstattet wurde.

Provinz Asia. Hadrian, 117-138. Cistophor. Rv. Statue des Apollon von Didyma. RIC 483. Gorny & Mosch 181 (2009), 1744.

Zu diesem Zeitpunkt war der gigantische Neubau des Tempels schon voll im Gang. Man bringt den baulichen Neubeginn mit Alexander zusammen – und der Gigantismus, der hier betrieben wurde, spricht für diese Annahme. 122 überdimensionierte Säulen sollten den Riesentempel umgeben. Wir wissen, wie viel Geld für so eine Säule bezahlt wurde, allein an Lohnkosten 40.000 Drachmen, was der Bezahlung für etwa 26.000 Arbeitstage entsprach. Wenn man das mit heutigen Handwerkerstundensätzen durchrechnet, wird klar, warum Milet sich derart verkalkuliert hatte. Dieser Aufwand war schlicht und ergreifend mit der wirtschaftlichen Kraft der Stadt nicht in Einklang zu bringen, auch wenn gelegentlich ein Kaiser einen ordentlichen Zustupf gab. Der Tempel war immer noch eine Bauruine, als man 600 Jahre nach Baubeginn das Heidentum abschaffte.

Frontalansicht des Tempels von Didyma. Foto: KW.

Aber ich gebe zu, Didyma ist die eindrucksvollste Bauruine, die ich in meinem Leben gesehen habe. Der Komplex misst rund 50 Meter auf 110 Meter. Die Säulen waren fast 20 Meter hoch. Schon allein diese Maße sind überwältigend!

Nichts als Dreck. Foto: UK.

Lachen Sie mich jetzt aus, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich trotz des beeindruckenden Tempels erst einmal völlig abgelenkt war von einem kleinen Mini-Sumpf?

Beim genauen Hinsehen gibt es jede Menge Frösche. Foto: UK.

Beim genauen Hinsehen entdeckte man nämlich jede Menge Frösche, die in wahren Massen weghüpften, wenn man zu nahe an dem Sumpf vorbeiging. Ich gebe zu, ich ging mehrmals an dem Sumpf vorbei, weil mir das Platschen und Springen so viel Spaß machte.

Griechische Landschildkröte, auch wenn sie in der Türkei lebt. Foto: KW.

Dann kreuzte eine ziemlich große griechische Landschildkröte unseren Weg. Haben Sie eigentlich jemals beobachtet, wie schnell diese Viecher laufen, auch wenn es auf den ersten Blick behäbig aussieht? Ich gebe zu, wir beschäftigten uns erst einmal gut eine halbe Stunde mit den kleinen Attraktionen der Fauna von Didyma, ehe wir uns auf die Architektur stürzten.

Aufstieg zum großen Tempeltor. Foto: KW.

Wir stiegen zur Vorhalle hoch. Dort führten in der Antike drei Tore in den Tempelinnenraum, die wohl damals genauso selten benutzt wurden wie heute.

Überdachter Eingang. Foto: KW.

Stattdessen gingen wir durch einen der zwei schmalen, überdachten Gänge, …

Adyton. Der nach oben offene Innenhof des Tempels. Foto: KW.

… ins so genannte Adyton. Dieser Hof war ursprünglich von einer ca. 20 Meter hohen Mauer umgeben. 5 Meter stehen davon noch, und die sind eindrücklich genug. Im Inneren dürften sich einst – wie übrigens auch im Apollontempel von Delphi – die Kultmale des Gottes befunden haben. Dazu gehörte sicher ein Lorbeerbaum und eine Quelle, über die ein kleines Tempelchen im Tempel errichtet war, von dem man heute noch Spuren sieht. Gerne würden manche Archäologen diesen Schrein als architektonische Umrahmung der Bronzestatue des Kanachos sehen, doch viel eher dürfte hier der Prozess der Orakelfindung angesiedelt gewesen sein, um ihn vor profanen Augen zu verbergen. Schließlich war das, was man für ein Orakel brauchte, in unmittelbarer Umgebung: Heiliges Wasser, Mutter Erde – der Felsgrund reichte bis nahe zur Quelle heran – und wohl auch der Lorbeerbaum. Vielleicht stand auch ein Kultbild in der Nähe, aber das war sicher nicht die bronzene Votivgabe, sondern ein unförmiger Holzpfahl, vergleichbar der Kultstatue von Athena in Athen, die rein gar nichts mit dem Standbild des Phidias zu tun hatte.

Sicher keine Bauzeichnung. Foto: KW.

Natürlich suchten auch wir die berühmten Bauzeichnungen von Didyma. Wenn ich mich recht entsinne, hatte ich sie schon im Jahre 1987 gesucht, als wir von der Uni aus eine Exkursion durch die Türkei machten, und ich den Vortrag über Didyma halten musste. Heute wie damals fand ich die bis zu 25 Meter langen Geraden und 4,5 Meter im Durchmesser messenden Kreisbögen nicht. Kein Wunder, dass diese Bauzeichnungen erst 1979 entdeckt wurden! Selbst wenn man sie sucht, findet man nichts. Und ich habe noch kein einziges gutes Bild dieser Bauzeichnungen gesehen, das er ermöglichen würde, das Original zu finden.

Museum von Milet. Foto: KW.

Wir wandelten nicht über die heilige Straße von Didyma nach Milet, auch wenn die in den letzten Jahrzehnten recht gut ausgegraben und rekonstruiert wurde. Wir bedienten uns der normalen Autostraße und kamen deshalb auf unserem Weg an dem neu eingerichteten Museum vorbei, in dem die Funde aus Milet, seiner Umgebung und Didyma ausgestellt sind.

Keramik mit Linear-A-Schrift im Museum von Milet. Foto: KW.

Wenn wir Ephoros von Kyme, einem Historiker des 4. Jh. v. Chr., glauben, soll der Kreter Sarpedon, der jüngste Sohn von Zeus und Europa, Bruder des Minos und des Totenrichters Rhadamanthys Milet gegründet haben. Tatsächlich ist eines der frühesten Exponate im Museum das Fragment eines Gefäßes, auf dem in Linear-A-Schrift geschrieben wurde.

Plan von Milet. Foto: KW.

Damals sah die Landschaft völlig anders aus als heute. Wo man jetzt sein Auto mitten in einer Schwemmebene parkt, war vor etwa 3.000 Jahren nichts als Meer. Milet lag also auf einem Landsporn, auf dem die Archäologen fast so viele bronzezeitliche Schichten gefunden haben wie in Troia. Gegen 1100 wurde die Stadt dann zerstört, so dass ionische Kolonisten – der Überlieferung nach im Jahr 1053 v. Chr. – die Stadt neu gründen konnten. Der Mythos spricht davon, dass ein Sohn des letzten Königs von Athen die Siedler angeführt habe, womit man die enge Beziehung der beiden Städte miteinander zu begründen versuchte.

Milet. Stater. Gorny & Mosch 190 (2010), 261.

Seinen Höhepunkt erlebte die Stadt in archaischer Zeit. Sie schickte ihre Söhne in die ganze Welt, um dort rund 80 (sic!) Kolonien zu gründen. Vor allem die reiche Kornkammer der Schwarzmeerküste wurde von Milet aus erschlossen. Sinope, Amisos, Trapezunt, Feodosia, Kertsch, Abydos, Kyzikos und Prokonnesos entstanden unter der Beteiligung von Milet. Auch in Naukratis, der berühmten griechischen Kolonie in Ägypten, lebten milesische Kaufleute.
Milet war damals so reich und mächtig, dass es unter dem Tyrannen Thrasybulos einen Krieg gegen die benachbarten Lyder gewann, und so unabhängig blieb, während die meisten anderen Städte Ioniens sich spätestens unter Kroisos unterwerfen mussten.

Milet. 1/12 Stater. Gorny & Mosch 200 (2011), 1818.

Berühmt ist Milet auch für sein Geistesleben. Thales berechnete für das Jahr 585 eine Sonnenfinsternis, Anaximenes und Anaximander forschten über den Urstoff der Welt, und Hekataios verfasste eine grundlegende Reisebeschreibung der damals bekannten Welt, aus der Herodot gerne und ausführlich zitierte.

Die Insel Lade – heute zwei kleine Hügel in einer Schwemmlandebene. Foto: KW.

Erst als die Perser das lydische Reich eroberten, kam auch Milet unter Fremdherrschaft. Ein den Persern freundlich gesinnter Tyrann wurde eingesetzt. Und der soll dann auch, wenn wir Herodot glauben wollen, schuld gewesen sein am Ionischen Aufstand. Er hatte nämlich den zuständigen Satrapen überredet, einen Krieg gegen Naxos zu beginnen, was ziemlich in die Hose ging. Um sich nun nicht vor dem Großkönig verantworten zu müssen, sollen die beiden eine ionische Unabhängigkeitsbewegung initiiert haben.
Vielleicht waren es wirklich persönliche Motive, aus denen der Ionische Aufstand entstand, ziemlich sicher existierten aber auch wirtschaftliche Gründe: Der persische Einmarsch in Ägypten hatte 525 den Handel über Naukratis beendet, und seit dem Skythenfeldzug 513/2 blieben auch die Handelsschiffe vom Schwarzen Meer aus. Vielleicht ging es also weniger um die Freiheit vom Joch der Perser als um die Verteidigung des eigenen Wohlstands.
Wir müssen hier die Geschichte des Ionischen Aufstands nicht wiederholen. Nur Athen und Eretria hatten ein paar Schiffe zur Unterstützung gesandt. Die Ionier allein waren der rund 600 Schiffe umfassenden Flotte der Perser nicht gewachsen. Bei der Insel Lade vor Milet, die heute nur noch aus zwei kleinen Hügeln im Schwemmland besteht, kam es zur Schlacht, die von den Griechen verloren wurden. Der Aufstand war gescheitert. Milet wurde zerstört. Und Athen hatte einen schöne Grund für die Perserkriege der nächsten Jahrzehnte geliefert.

Milet. Drachme vom Alexander-Typ, 295-275. Gorny & Mosch 190 (2010), 173.

Natürlich wurde Milet wieder aufgebaut. Und es trat dem Delisch-Attischen Seebund bei. Es blieb bis 412 mit Athen verbündet, bis nämlich die arrogante Herrschaft der Athener Milet im Peloponnesischen Krieg auf die Seite von Sparta führte. Spätestens mit dem Antalkidas-Frieden kam Milet wieder vollständig unter persische Kontrolle. Und als Alexander der Große das ehemalige Perserreich übernahm, war Milet in den Diadochenkriegen dem wechselhaften Schicksal ausgeliefert.

Milet. Tetradrachme, 352-325. Gorny & Mosch 211 (2013), 362.

Milet war gehörte zu irgendeinem Zeitpunkt zu jedem der verschiedenen Reiche, die sich um Kleinasien balgten. Und auch als die Römer 133 die Erbschaft der Attaliden übernahmen, kehrte kein Frieden ein. Der kam erst, als Augustus Alleinherrscher wurde. Er leitete eine späte Blüte der Stadt ein. Doch mit der Provinzhauptstadt Ephesos und dem aufstrebenden Hafen von Smyrna konnte Milet nicht mehr mithalten. Milet blieb – auch in byzantinischer und türkischer Zeit – ein lokales Zentrum, das erst nach 1400 verschwand, als der Hafen endgültig versandete.

Statue des Flussgottes Mäander. Foto: KW.

Das Museum von Milet lohnt wirklich den Besuch. Es gibt einen hervorragenden Überblick zur Geschichte der Stadt. Bemerkenswert war eine Statue des Flussgottes Mäander …

Relief des Apollon Delphinios.

… und ein Relief des Apollon Delphinios. Ihm war das wichtigste Heiligtum von Milet geweiht. Von Apollon Delphinios zog die festliche Prozession regelmäßig über die heilige Straße zum Apollon von Didyma. Delphinios kommt von Delphi – und tatsächlich zeigt dieses Relief Apollon, wie wir ihn aus seinem wichtigsten griechischen Heiligtum kennen: mit Bogen, zu seinen Füßen einen Omphalos, um den sich die Schlange windet, zu seiner Linken Dreifuß und Lorbeerbaum.
Wenn Sie Lust auf einen Abstecher nach Delphi bekommen haben, klicken Sie Blick auf den kleinen Mäander. Foto: KW.<" target="_blank">hier.

Sphingen von der heiligen Straße. Foto: KW.

Auch die Funde von der heiligen Straße sind im neuen Museum ausgestellt …

Vitrine mit Münzfunden im neuen Museum von Milet. Foto: KW.

… und natürlich Münzen.

Hortfund von Söke Tekkisla. Foto: KW.

Darunter befindet sich der Hortfund von Söke Tekkisla, der 1996 ins Museum von Milet kam. Er besteht aus 125 Goldmünzen der Osmanen, geprägt fast ausschließlich unter Suleiman I., und 174 zeitgleichen venezianischen Münzen. Dazu kommen 676 osmanische Silbermünzen. „Der Tekkisla Hort ist von besonderer Bedeutung, weil er den ökonomischen Zustand der Periode spiegelt sowie politische und militärische Aspekte.“ So stand es auf der Tafel zu lesen. Während ich das mit dem ökonomischen Zustand noch verstand, fragte ich mich, welche politischen und militärischen Aspekte ich ihm entnehmen sollte. Aber ich glaube, das war wieder einmal ziemlich naiv von mir, dass ich eine Tafelaufschrift ernst nahm.

Löwe am Spieß. Foto: KW.

Sehr hübsch war auch die kleine Ansammlung von Reliefs und Inschriften, die im Garten des Museums zu finden war. Und ich möchte es keinesfalls versäumen, Ihnen mein Lieblingsobjekt zu zeigen: Löwe am Spieß.

Das Theater von Milet. Foto: KW.

Mitten in der größten Hitze des Tages kamen wir in Milet an. Die Sonne brannte gnadenlos.

Zuschauereingang zum Theater. Foto: KW.

Durch einen der hervorragend erhaltenen Zuschauereingänge gelangten wir auf die oberste Stufe des Theaters, von wo man einen ausgezeichneten Fernblick hat. Und da saß ich nun und philosophierte schwitzend darüber, ob es die wenigen erhaltenen Ruinen es wert sein konnten, in der Mittagshitze durch die Landschaft zu laufen.

Blick auf die Faustinathermen. Foto: KW.

Nein, sie waren es nicht. Ich warf einen kurzen Blick auf die Faustinathermen, die mich nicht einmal dazu reizten, näher ranzugehen.

Kleine Schlange in der Badewanne. Foto: KW.

Wir beobachteten eine kleine, harmlose Schlange bei ihrem erfrischenden Bad …

Karawanserei aus dem 15. Jh. Foto: KW.

… und entschlossen uns dann, die Karawanserei aus dem 15. Jh. zu besichtigen, in der – wie vernünftig – ein kleines Café untergebracht ist. Am kühlsten Ort von Milet erholten wir uns.

Ein breit gefächertes Angebot an falschen Münzen. Foto: KW.

Bald waren wir wieder hergestellt und konnten uns über das breit gefächerte Angebot an falschen Münzen freuen, das hier zum Kauf bereit stand.

Blick auf den kleinen Mäander. Foto: KW.

Über den großen Mäander – auf türkisch Büyük Menderes – fuhren wir wieder ins touristische Kusadasi und waren heilfroh über die Ruhe im Garten unseres Luxushotels.

Begleiten Sie uns nächste Woche nach Priene, das für seine gut erhaltene Stadtanlage berühmt ist.

Alle Teile der Serie „Türkischer Frühling“ finden Sie hier.