Das Silber von Laurion

Material der Eulen von Athen

Eines Mittags jedoch glaubte ich, es gefunden zu haben. Ich war allein in Sunion; brennende Sommersonne; die verwundeten Pinien tropften ihr Harz, die Luft war voller Duft. Eine Zikade setzte sich auf meine Schulter, und eine Zeitlang wanderten wir zusammen. Ich duftete selbst wie eine Pinie, ich war zur Pinie geworden.

Blick auf den Poseidontempel von Kap Sunion.

Und plötzlich, aus dem Pinienwald heraustretend, sah ich die weißen Säulen des Poseidon-Tempels und zwischen ihnen, strahlend, dunkelblau, das heilige Meer. Meine Knie wankten, ich blieb stehen. Das ist die Schönheit, dachte ich mir, die flügellose Siegesgöttin, der Gipfel der Freude, höher kann der Mensch nicht gelangen. Das ist Griechenland!
Nikos Kazantzakis (1883-1957), Aus „Im Zauber der griechischen Landschaft“
Wie hätte sich Nikos Kazantzakis, der Autor des Alexis Sorbas, gewundert, wenn er nicht zu Beginn des letzten Jahrhunderts bei Kap Sunion gewandert wäre, sondern mehr als 2000 Jahre früher, in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Kein Pinienduft wäre an seine Nase gedrungen, stattdessen hätte beißender Qualm die Luft verpestet. Die Gegend um Sunion war bekannt für ihr ungesundes Klima. Rauchschwaden durchzogen die Luft, die Feuer der Brennöfen erhellten die Nacht, viel zu viele Menschen lebten eng gedrängt aufeinander im Minengebiet von Laurion, zwischen Kap Sunion und der Hafenstadt Thorikos. Hier befand sich ein Industriegebiet, das bezüglich Dreck und Umweltverschmutzung dem Ruhrgebiet Ende des 19. Jahrhunderts geähnelt haben muß. Bleiche, verdreckte Gestalten bevölkerten es. Sie brachten in härtester Arbeit das erzhaltige Gestein an die Oberfläche, aus dem das Silber gewonnen wurde für die berühmtesten Münzen der Antike, für die Eulen von Athen.

Athen. Tetradrachmon, um 450 v. Chr. Kopf der Göttin Athena. Rv. Eule n. r. Foto: MoneyMuseum Zürich.

Der Name des Bergbaugebiets hängt zusammen mit dem griechischen Wort „laura“ (= schmaler Gang, Gasse). Im engeren Sinn bezeichnet Laurion das Gebiet der „alten Grubengänge“, was auf das hohe Alter des Bergbaus hinweist.

Die Ruinen von Thorikos.

Und in der Tat finden sich bei Thorikos Spuren von Silberbergbau aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. Händler brachten Gegenstände aus Silber, das in Laurion gewonnen wurde, bereits in mykenischer Zeit bis nach Thera, Kreta und Ägypten, was wir heute durch die Isotopenbestimmung nachvollziehen können. Eine systematische Ausbeutung der Bodenschätze begann allerdings wohl erst unter Peisistratos im 6. Jh. v. Chr. Und ihre Blütezeit erlebten die Minen von Laurion im 5. Jahrhundert, also in der Zeit, in der Athen auf dem Höhepunkt seiner Macht stand.
Zu dieser Zeit verpachtete das Volk der Athener die einzelnen Gruben an Unternehmer. Dies wissen wir, weil sich Listen erhalten haben, in denen aufgeführt ist, wer welche Grube gepachtet hatte. Aus einer Rede des Demosthenes (384-322 v. Chr.) XXXVII, 22 erfahren wir sogar, wie viel die Nutzungsrechte für ein Bergwerk kosten konnten. Der Redner berichtet von einem Mann namens Pantainetos, der die Nutzungsrechte an einem Bergwerk für 90 Minen, also für 1 1/2 Talente oder 9.000 Drachmen pachtete. Dieser Vertrag galt für drei Jahre. Danach besaß sowohl das Volk von Athen als auch Pantainetos das Recht, den Vertrag aufzulösen oder ihn gegen Zahlung der Pachtgebühr zu verlängern.
Nicht immer arbeiteten die Pächter übrigens selbst in ihren Bergwerken. Häufig setzten sie Verwalter ein, und das mußten keine freien Bürger sein. Wir kennen den Fall des thrakischen Sklaven Sosias, den der reiche Nikias für 1 Talent, also 6.000 Drachmen kaufte. Dies war eine enorme Summe! Sie entsprach mehr als dem 30- bis 40fachen, was man normalerweise für einen Sklaven ausgab. Aber dafür war Sosias ein Spezialist im Suchen und Auffinden von Silbergängen. Nikias übertrug ihm die Leitung all seiner Minen im Laurion und stellte ihm dazu 1.000 Sklaven zur Verfügung, die für ihn im Bergbau arbeiteten. Nikias bezog von Sosias eine regelmäßige Dividende. Was sein Verwalter darüber hinaus erwirtschaftete, gehörte dem Sklaven. Doch dies dürfte eine seltene Ausnahme gewesen sein. Nur wenige Sklaven schafften den Aufstieg vom Sklaven zum freien Mann, die meisten von ihnen starben, ehe sie genug Geld angespart hatten, um sich die Freilassung zu erkaufen.

Blick ins das von unzähligen Schächten und Stollen durchzogene Agrileza-Tal.

Mehr als 2.000 antike Schächte und Stollen wurden auf den 2.000 Hektar, welche das Gebiet von Laurion umfaßt, nachgewiesen.

Unterirdischer Grenzpfeiler.

Sie liegen zum Teil eng nebeneinander, sind nur getrennt durch steinerne Pfeiler, die zum einen der Sicherheit der Bergarbeiter dienten, zum anderen die klare Abtrennung der einzelnen Grubenbezirke gewährleisteten. Diese Pfeiler mußten einen bestimmten Umfang behalten. Bergwerkspächter, die sie beseitigten, wurden mit dem Tode bestraft. Eine Pachtkommission wachte darüber – nicht aus Besorgnis über die Sicherheit der Grubenarbeiter, sondern weil es sich um offizielle Grenzsteine handelte. Übrigens ist uns durch Diogenes Laertios I, 57 tatsächlich ein Urteil überliefert, in dem der reiche Unternehmer Diphilos um 330 v. Chr. wegen der Beseitigung so eines Pfeilers mit dem Tode bestraft wurde.

Einblick in einen Schacht, deutlich sichtbar, ein abgehender Stollen.

Die Bergwerke bestanden zumeist aus einem 25-55 Meter tiefen Schacht von 1,9:2 oder 1,3:1,9 Meter Durchmesser, von dem die einzelnen Stollen abgingen. Diese maßen 0,6:0,9 Meter und ihre Länge erreichte 30 bis 40 Meter. Um so einen Stollen 10-12 cm voranzutreiben, benötigte man 10 Stunden, die Dauer einer Arbeitsschicht, die vermutlich durch die Brenndauer der Grubenlampe bestimmt wurde. Zum Graben benutzte man Hammer, Meißel, Hacke, Schaufel und Brechstange. Und natürlich war ein einzelner Mann kaum in der Lage, die harte Arbeit 10 lange Stunden durchhalten zu können. Man nimmt heute an, daß in den Stollen von Laurion Teamarbeit betrieben wurde: Ein Mann trieb den Gang weiter vor, der andere befördert das dabei losgeschlagene Gestein bis zum Ende des Stollens; nach einer gewissen Zeit wurde abgewechselt. Diese Arbeit wurde Tag und Nacht weitergeführt, im Schichtbetrieb, da ein Pächter aus seinem Bergwerk natürlich möglichst viel herausholen wollte. Übrigens bezeichneten um 1910 ausgerechnet Kenner des Bergbauwesens die Arbeitsbedingungen, die in den Gruben von Laurion herrschten, zwar als hart, aber nicht als unerträglich.
War das erzhaltige Gestein abgebaut und an den Eingang des Stollens verbracht, mußte es weiter befördert werden. Diese Arbeit übernahmen Kinder, die in einem aus Leder genähten Beutel, der an einem Riemen über die Schulter getragen wurde, die Steinbrocken von der Grube zur Aufbereitungsanlage schafften. Gelegentlich erleichterte ihnen eine einfache Seilwinde die schwere Arbeit. Wenn der Schacht weit genug angelegt war, konnte man über so eine Winde die mit Steinbrocken gefüllten Säcke nach oben ziehen. Gleich beim Grubenausgang war der Platz für eine erste Vorsortierung. Das taube Gestein wurde auf eine direkt beim Grubeneingang gelegene Halde geworfen.
Übrigens sollte man nicht zu verblüfft sein, Kindern in den Bergwerken von Laurion zu begegnen. Zum einen wurden sie auch bei uns noch bis ins 19. Jahrhundert hinein zur Beförderung des Gesteins in Bergwerken eingesetzt: Schließlich nutzte ihnen bei dieser Arbeit ihr schmächtiger Körperbau. Und dann waren in Laurion genügend Kinder vorhanden. Nicht nur die wenigen freien athenischen Bürger, die sich ihren Lebensunterhalt im Bergbau erwarben, hatten eine Familie. Auch den Sklaven war das Heiraten nicht verboten. Im Gegenteil, es wurde sogar gerne gesehen. Eine Familie garantierte das Wohlverhalten des Versklavten und stellte zusätzliche Arbeitskräfte zur Verfügung, die zumeist in den Aufbereitungsanlagen eingesetzt wurden.

Aufbereitungsanlage.

Diese lagen in unmittelbarer Nähe der Gruben und scheinen eine Art genormte Größe gehabt zu haben.

Schematische Darstellung einer Aufbereitungsanlage. Aus E. Ardaillon, Les mines du Laurion dans l’Antiquité. Paris 1897.

Sie umfaßten fünf Klaubtische, auf denen ein weiteres Mal das taube vom erzhaltigen Gestein geschieden wurde. Auch hier setzte man Kinder, Frauen und im Bergbau alt gewordene Männer ein. Danach zerkleinerte man die Steine in Mörsern. Auch von ihnen gab es fünf in jedem Betrieb.

Schematische Darstellung einer Steinmühle. Aus E. Ardaillon, Les mines du Laurion dans l’Antiquité. Paris 1897.

Der nächste Schritt der Verkleinerung wurde in einer der drei Mühlen durchgeführt, an denen 4 bis 6 Arbeitskräfte etwa 4 Tonnen Erzgestein pro Tag zermahlen konnten. Immer wieder siebte man das Erz, bis es gegen Ende des Prozesses nur noch die Größe eines Hirsekorns hatte.

Zisterne.

Danach erfolgte die nasse Reinigung. Dafür gab es in jeder Wäscherei zwei Anlagen. Dazu gehörten eine leicht geneigte Waschfläche, mehrere mit Stauvorrichtungen versehene Zuleitungen und ein Klärbecken, sowie eine Trockenfläche für die Erzkörner. Hier wurden die schweren Metallteile von den Gesteinsteilen getrennt. Wobei das dürre Land es notwendig machte, das dafür notwendige Wasser von weit her zu holen und es mehrfach zu verwenden. Es wurde in einer abgedeckten Zisterne gespeichert. Einige von diesen noch heute gut erhaltenen Zeugnissen antiker Bergbaukultur konnten mehr als das 20fache des laufenden Bedarfs einer Wäscherei aufnehmen.
Etwa 33 Arbeitskräfte waren in so einem Betrieb beschäftigt, wobei die Männer, die am Klärbecken arbeiteten, hoch bezahlte Facharbeiter waren. Die meisten von ihnen kamen vom Sklavenmarkt in Sunion, der zu den größten in Griechenland gehörte. Etwa 150 bis 200 Drachmen zahlte man dort für einen durchschnittlichen Arbeiter. Jugendliche wurden wesentlich billiger gehandelt. Sie kosteten zwischen 50 und 100 Drachmen. Für einen ausgewiesenen Facharbeiter, wie sie zumeist im Bergwerksgebiet eingesetzt wurden, mußte man etwa 250 bis 300 Drachmen rechnen – genauso viel wie für die hübschesten Sklavinnen.
Man schätzt heute, daß das Geld, das der Pächter einer Aufbereitungsanlage in Sklaven investieren mußte, bei 40-50 % des gesamten Betriebskapitals lag. Bei Gruben war der Anteil sogar noch höher. Hier stellten die Sklaven 80-90 % des Betriebskapitals dar. Kein Wunder, daß sich die geschäftstüchtigen Athener bald überlegten, wie man diese hohe Anfangsinvestitionen vermeiden könne. Sie griffen auf Mietsklaven zurück, dem griechischen Äquivalent unserer Aktienfonds.
Wer daran dachte, von seinem eigenen Kapital zu leben, der legte seine Ersparnisse in einem oder mehreren Sklaven an. Die vermietete er. Besaßen sie keinerlei besondere Kenntnisse, konnte ihr Besitzer immerhin mit einem Obol pro Tag rechnen, bei Fachkräften lag die Tagesmiete noch wesentlich höher. Verzinst wurden auch die arbeitsfreien Tage, oder wenn ein Sklave einmal krank wurde. Damit war der Gewinn, den man aus der Sklavenvermietung bezog, sicher und leicht berechenbar. Die Rendite betrug bei einem Durchschnittssklaven mit einem Anschaffungspreis von 200 Drachmen 30 %, was bedeutete, daß sich diese Investition nach etwas mehr als drei Jahren amortisiert hatte. Da Bargeld-Darlehen in klassischer Zeit lediglich mit 12 % im Jahr verzinst wurden, lohnte sich die Anschaffung von Sklaven. Sie war überdies völlig risikolos, da der Leihnehmer haftete, wenn ein Sklave bei der Arbeit zu Schaden kam, starb oder floh.
Auch die Verhüttung erfolgte direkt im Bergbaugebiet. Allerdings finden sich davon im Laurion nur wenige Überreste. Es existierten nur einige wenige, zentral gelegene Öfen. Sie genügten, um von allen Minen herangeschafftes, schon vorbereitetes und praktisch nur noch aus Blei und wenig Silber bestehendes Metall auszuschmelzen.
Es wird sich wohl um „Hochöfen“ gehandelt haben, die ähnlich angelegt waren wie diejenigen, die wir aus Spanien kennen. Die nötige Hitze erzielte man, indem man mit einem Blasebalg zusätzliche Luft zuführte. Der schädliche Rauch wurde mittels eines Schornsteins in die Luft abgeführt. Diese Öfen heizte man mit Holz und Holzkohle, wobei das Holz zum Teil von weit her importiert werden mußte.

Bleiklammer, zur Befestigung von Säulentrommeln aufeinander.

Bei diesem Prozeß wurde übrigens nicht nur Silber gewonnen, sondern auch wertvolles Blei, das man vor allem im Bau einsetzte. Unzählige Wasserrohre und Bleiklammern wurden beim großen Umbau von Athen gebraucht. Weitere „Abfallprodukte“ des laurischen Bergbaus waren Quecksilber, Zinnober, Rötel und Ocker.
Ob übrigens alles Silber, aus dem Münzen geschlagen werden sollte, nach Athen geliefert wurde, oder ob es eine kleine Münzstätte direkt im Bergbaugebiet gab, ist noch nicht geklärt. Der Fund von zwei Tiegeln aus Bleioxyd, in denen mehrere Vertiefungen wohl dazu dienten, Münzschrötlinge für Drachmenstücke herzustellen, weist darauf hin, daß es durchaus auch im Laurion oder in Sunion eine Münzstätte gegeben haben könnte.
Die Blütezeit des Grubengebiets von Laurion war, wie bereits gesagt, im 5. Jahrhundert v. Chr. Doch bereits 413 kam der Betrieb durch die spartanische Besetzung von Dekeleia während des Peloponnesischen Krieges zu einem vorläufigen Ende. Im Jahr 404, bei Kriegsende, war die Förderung von Silber praktisch auf einem Nullpunkt angelangt. Erst eine Generation später, um 370, begannen einige Unternehmer, wieder Minen zu pachten und zumeist ältere, stillgelegte Gruben des 5. Jahrhunderts neu zu bewirtschaften. Dies führte zu einer zweiten Hochkonjunktur von Laurion um 340. Erst die Konkurrenz der Gold- und Silberproduktion von Makedonien und Thrakien beraubte Laurion seiner Bedeutung. Und als Alexander, genannt der Große, das persische Silber erbeutete, wurde die Arbeit in den heimischen Minen unrentabel. Der Silberpreis sank derartig, daß mit der Ausbeute der Bergwerke die Betriebskosten nicht mehr gedeckt werden konnten.
Eine neue Blüte brachte der römische Sieg über das makedonische Volk im Jahr 168 v. Chr. Um ein Erstarken der Makedonen zu verhindern, ordnete Rom an, alle Bergwerke zu schließen. Damit fielen die makedonischen Silberlieferungen aus, es entstand eine Marktlücke im griechischen Raum, welche Athen auszufüllen bereit war. Billige Sklaven, römisches Kapital und eine neue Technik, mit der man bereits ausgeschmolzenen Schlacken noch einmal Silber entzog, führten zum Wiederaufstieg Laurions. Auch zwei Sklavenaufstände, konnten diese Entwicklung nicht aufhalten. Noch in der römischen Kaiserzeit existierten einige Betriebe. Vereinzelte Funde reichen sogar bis in die byzantinische Zeit.
Wer heute nach Laurion kommt, kann die Zeugnisse der antiken Industriekultur bewundern. Sie liegen da, als bräuchte man sie nur wieder in Betrieb zu nehmen. Man wandert durch ein riesiges Gebiet, auf dem Grube neben Grube, Aufbereitungsanlage neben Aufbereitungsanlage liegt. Zikaden zirpen, der Duft der Pinien liegt in der Luft, und der Lärm des Tourismus, der einen bei Sunion umbrandete, ist weit fort. Ja, das ist das wahre Griechenland. Es liegt entfernt von den weißen Marmorruinen des Parthenon in einem vergessenen Tal, das einst die Basis lieferte für die Macht Athens.