Peter der Große als Barbier seiner Nation

Am 5. September 1698 kehrte Peter, den man später den Großen nennen sollte, von seiner Bildungsreise in die Metropolen Europas zurück nach Moskau. Natürlich fanden sich am nächsten Morgen bei ihm alle wichtigen Beamten ein, alle Hofschranzen und auch diejenigen, die sich eine Gunst vom Zaren erhofften. Doch statt mit ihnen über die politische Zukunft Rußlands zu sprechen, tat Peter etwas völlig unerwartetes. Er zog ein langes, scharfes Rasiermesser aus seiner Tasche und begann, den Oberbefehlshaber der Armee zu scheren. Dieser war viel zu verblüfft, um sich zu wehren. Genauso ging es dem nächsten in der Reihe, einem wichtigen Politiker, Bojar aus ältester und bester russischer Familie. Und nun wurde ein russischer Adliger nach dem anderen geschoren mit drei Ausnahmen. Den Patriarch verschonte Peter, einen sehr alten Mann und den eigenen Vormund.

Ein Beamter Peters des Großen schert einem Bojaren den Bart.

All die anderen hohen Politiker mußten nun damit leben, daß sie nach Ansicht der orthodoxen Kirche eine schwere Sünde begangen hatten. Iwan der Schreckliche hatte es formuliert: „Den Bart zu scheren, ist eine Sünde, die das Blut aller Märtyrer nicht abwaschen kann. Man würde damit das Bild des Menschen, wie es von Gott geschaffen wurde, entstellen.“ Der Patriarch Adrian hatte noch jüngst öffentlich verkündet: „Gott schuf die Menschen nicht bartlos, nur Katzen und Hunde schuf er so. Das Rasieren ist nicht nur eine Dummheit und eine Respektlosigkeit; es ist eine Todsünde.“ Und nun wurden alle, die in direktem Kontakt mit dem Zaren lebten gezwungen, ihren Glauben zu Gunsten des sogenannten Fortschritts aufzugeben.
Zunächst blieben die Barbierkünste des Zaren auf seine engste Umgebung beschränkt. Doch nur kurze Zeit später befahl Peter das, was seine Großen vorgemacht hatten, auch im Kleinen. Der Zar erließ für alle Bewohner seines Reiches das Verbot, einen Bart zu tragen. Ausgenommen wurden nur die Geistlichen und die Bauern. Beamte wurden ausgeschickt, um die Durchsetzung dieses Ukas zu überwachen und jeden, der sich weigerte, sofort und persönlich zu rasieren.
Aber Rußland wäre nicht Rußland gewesen, wenn diese Beamten nicht gegen ein kleines Entgelt bereit gewesen wären, einen Bart zu übersehen. Es konnte allerdings für den Bartträger teuer werden, sich die illegale Toleranz zu erkaufen. Denn jeder Beamte, dem der Bartträger begegnete, hatte das Recht zur Rasur.

Russische Marke zum Nachweis, daß die Bartsteuer bezahlt wurde. 1705. Aus Auktion Baldwin 26 (2001), 2110.

Peter sah diesen Mißstand und die Bereitschaft seiner Untertanen, sich den Bart mit Geld zu erkaufen. Da das westliche Aussehen seiner Russen im Großen mittlerweile durchgesetzt war, konnte er im Kleinen großzügig sein. Peter erließ ein neues Gesetz, das auch den Bauern die Rasur auferlegte, es aber dafür allen Russen, die von ihrem Bart nicht lassen wollten, ermöglichte, gegen eine Steuer das Recht auf einen Bart zu erwerben. Diese Steuer war progressiv angelegt: Der kleine Bauer zahlte zwei Kopeken, ein reicher Kaufmann bis zu 100 Rubel. Dafür erhielten sie eine Kupfermarke, auf der ein Bart abgebildet war sowie die russischen Worte „Steuer bezahlt“.
Diese Marken sind in einigen Exemplaren auf uns gekommen (Abb. 2) und erinnern uns an eine Zeit, in der ein regierender Politiker noch glaubte, den Fortschritt seines Landes durch die Tracht seiner Bürger beeinflussen zu können.